Senecas in der Pandemie besonders nützliche Weisheiten

Senecas in der Pandemie besonders nützliche Weisheiten
Sobald etwas meinen an Widerwärtigkeiten nicht gewohnten Geist getroffen hat, sobald entweder etwas Unverschuldetes, wie das im Menschenleben vielfach der Fall ist, oder nicht so ganz Wunschgemäßes eingetreten ist oder Nichtigkeiten viel Zeit in Anspruch genommen haben, wende ich mich einem abgeschiedenen Leben zu, und wie bei Tieren, auch ermüdeten, beschleunigt sich mein Schritt nach Hause.

Es gefällt mir, wieder mein Leben auf die eigenen vier Wände zu beschränken. Niemand bringe mich um einen Tag, ohne angemessenes Entgelt für so großen Verlust erbringen zu wollen! Mit sich selbst sei mein Geist befaßt, mit seiner Vervollkommnung, er treibe nichts ihm Fremdes, nichts, was sich dem Urteil anderer aussetzt, seine Liebe gehöre einer von Sorge um Eigenes und die Gemeinschaft freien Ausgeglichenheit.

Vor allem ist es notwendig, sich selbst einzuschätzen, weil wir in der Regel uns einbilden, mehr leisten zu können, als es wirklich der Fall ist: der eine kommt zu Fall durch das Vertrauen auf seine Beredsamkeit, der andere belastete sein Vermögen mehr, als es vertragen konnte, ein dritter hat seine schwächliche Konstitution durch zu mühselige Ver­pflichtungen gebrochen. Sodann gilt es, besonders die Aufgaben abzuschätzen, die wir in Angriff nehmen, und unsere Kräfte mit den Vorhaben, an die wir uns heranwagen wollen, in Vergleich zu setzen.

Denn immer muß der Handelnde über mehr Kraft verfügen, als die Aufgabe abverlangt: Belastungen, die die Kraft des Ertragenden übersteigen, müssen ihn zerbrechen. Ferner sind einige Unternehmungen nicht so sehr groß als vielmehr folgenreich, d. h. sie ziehen viele Geschäfte als Folge nach sich. Es gilt, solche Aufgaben zu meiden, aus denen neu­artige und vielfältige Inanspruchnahme erwächst.

Zudem soll man nicht an Aufgaben herantreten, von denen sich zurückzuziehen nicht freisteht: an solche Aufgaben mußt du Hand anlegen, deren Vollendung du entweder fertig­ bringen oder wenigstens erhoffen kannst; aufgeben aber diejenigen, die während deiner Arbeit anwachsen und nicht geringer werden, wenn du sie dir gestellt hast. .
Nichts aber erfreut wohl in gleicher Weise wie eine Freundschaft in Treue und Liebe.

Was für ein Segen waltet da, wo Herzen dazu herangebildet sind, daß gefahrlos jedes Geheimnis bei denen Aufnahme findet, deren Mitwissen du weniger fürchtest als dein eigenes, deren Zuwendung deine Zerknirschung lindert, deren Zureden Rat gibt, deren Hei­terkeit Schwermut zerstreut und deren Anblick allein schon erfreut. Diese Freunde werden wir, soweit wie möglich, frei von Leidenschaften auswählen. Unmerklich finden ja Charakterfehler Zugang, greifen gerade auf die Nächstste­henden über und schaden durch bloße Berührung.

Des­halb, wie bei einer Pestepidemie dafür zu sorgen ist, daß wir nicht in die Nähe schon angesteckter und in Krankheit fiebernder Körper geraten, weil wir Gefahren auf uns ziehen und allein schon durch den Atem das Leiden auf uns laden werden, ebenso werden wir bei der Auswahl unserer Freunde uns darum bemühen, in ihrem Charakter möglichst wenig verdorbene Leute an uns zu binden. Es ist der Beginn der Krankheit, Gesundes und Krankes zu mischen. Auch das möchte ich dir nicht nahelegen, nur einem Weisen zu folgen und nur ihn in deine Nähe zu ziehen. Denn wo wirst du ihn finden, den wir so viele Jahrhunderte suchen? Als der Beste gilt der am wenigsten Schlechte.

Zusammengestellt aus: Seneca -De tranquillitate animi -Über die Ausgeglichenheit der Seele
Übersetzt und herausgegeben von Heinz Gunermann, Reclam Verlag 2002